Zur Hauptseite

LOVE IT!

Impressionen vom New York City Marathon 2002 

„Love it!“ Ein optimistisches Motto prägt diesen Marathon, ein Jahr nach dem Terroranschlag gegen das World Trade Center. Es ist Sonntag, der 3. November um 7.30 Ortszeit, ich bin eingepackt in dicke Sweatshirts, einer richtig gutaussehenden, wärmenden hellen Mülltüte und stehe unterhalb der Verrazano Narrows Bridge. So wie ich sehen fast alle dreißigtausend Läuferinnen und Läufer aus, die um 11.15 zum 33. New York City Marathon starten werden. Die Temperatur beträgt 3 Grad Celsius, in der hier gebräuchlicheren amerikanischen Temperaturangabe hört sich das viel sympathischer an: 42 Grad, allerdings in Fahrenheit. Die riesige Brücke, die Staten Island und Brooklyn verbindet und über die wir nachher laufen werden, wird um 8 Uhr für den gesamten Verkehr dichtgemacht. Wer vor 8 Uhr nicht durch ist, kann sich den Marathon als Zuschauer angucken und deswegen ist bereits um diese frühe Zeit das Gros der Läufer in der Militärbasis Fort Wadsworth versammelt. Es gibt strenge Personenkontrollen, außer den durchsichtigen Kleiderbeuteln die wir bei der Startnummernausgabe im Jakob Javits Center erhalten haben werden keinerlei andere Taschen akzeptiert. Ungewohnt, aber beruhigend. Die Stimmung unter den Läufern ist herzlich, Bands spielen die derzeit heißesten Hits der US-Charts, Entertainer machen Stimmung, das Sprachengewirr ist babylonisch, der Alaska-Runner macht seine Scherze mit den gutaussehenden Girls von der Copacabana, Latinos aus Peru, Chile und Ecuador fotografieren sich gegenseitig, die buchstäblich längste Pißrinne der Welt wird zusehends stärker frequentiert. Momente, in denen ich irgendwie neben mir zu stehen scheine. Fast hunderttausend wollten dieses Jahr mitlaufen, zwanzigtausend Startnummern wurden an US-Bürger vergeben, zehntausend weitere weltweit. Etwa tausend Läufer aus Deutschland haben im Sommer die begehrte Registration Card erhalten, ohne die es keine Startnummer gibt. Ein Jahr Training liegt hinter mir, Highlights wie der Bewag-Halbmarathon im April in Berlin, der Regensburg-Marathon im Mai und natürlich der Halbe in Schwarzenbach, ein Muss vor allem deshalb, weil sich die Schwarzenbacher total viel Mühe damit geben. Eine alte IFL-Weisheit fällt mir dabei ein: 

„Der Weg in New York´s Central Park führt über den Untreusee und die Pfaffenteiche“ 

10.40 Uhr: Die Läufer werden in ihre Startblöcke gebeten, es gibt drei davon, entsprechend den gelaufenen Zeiten. 11.15: Die Nationalhymne ist verklungen, der Startschuss fällt, the race can go on. Riesenjubel unter den Zehntausenden bricht aus, die Anspannung eines langen, harten Trainings löst sich in diesem Augenblick und während wir langsam in Richtung Startmatte traben erklingt aus den Lautsprecher-Boxen entlang der Brückenauffahrt Frank Sinatras „New York, New York“. Ich laufe die Brücke hoch und beim hochblicken, entlang der armdicken Stahltrossen der Verrazano Bridge realisiere ich es: Hey! Du bist ja in New York, der Marathon hat begonnen! Die Brücke ist relativ steil, vor allem aber saukalt. Der Wind, der vom Hudson herüberweht ist scharf, der grandiose Ausblick den man von der Brücke aus auf Manhattan allerdings hat, entschädigt einen. In Sichtweite drüben liegt der Central Park, aber 26,2 Meilen sind bis dahin noch zu bewältigen. Ungewohnt ist die Beschilderung in Meilen, ich habe zwar umgerechnet, wie lange ich für eine Meile brauchen darf, aber die kürzeren Abstände der Kilometerschilder fehlen mir. Zum Glück stehen alle fünf km Hinweisschilder an der Strecke. Nach anderthalb Meilen ist die Brücke zu Ende, die Sweatshirts die fast alle noch anhaben, fliegen an den Straßenrand. Wir sind in Brooklyn. Der Marathon geht durch alle fünf New Yorker Stadtteile und in Brooklyn säumt sehr gemischtes Publikum den Straßenrand. Zunächst viele Weiße, dann immer mehr Afrikaner, Asiaten, Mexikaner. New York ist wirklich ein „melting pot“, ein Schmelztiegel verschiedenster Ethnien. Die Begeisterung des Publikums wird von Meile zu Meile stärker, die Stimmung erreicht in der Fourth Avenue einen ersten Höhepunkt. Die Straße erscheint einem endlos lange, die gesamte Laufstrecke durch Brooklyn umfasst fast 16 Kilometer. An der Seite spielen Bands, vor allem die Schwarzafrikaner und Mexikaner am Straßenrand sind richtig gut drauf und feuern einen immer wieder an. Von Bay Ridge bis Clinton Hill steigert sich die Stimmung unter Zuschauern und Läufern gleichermaßen, in Höhe der achten Meile sind eben beide warm: Die einen vom Laufen, die anderen vom ständigen Anfeuern.  Umso kontrastreicher ist dagegen die Stille unter den Zuschauern entlang der Bedford Avenue im Brooklyner Stadtteil Williamsburgh. Es sind überwiegend orthodoxe Juden, alle schwarz gekleidet, schwarze Hüte auf dem Kopf, Bärte, geringelte Locken, Schnallenschuhe. Keiner applaudiert, auch die Kinder nicht. Für einen Moment kommt es mir vor, als würde ich durch Tel Aviv laufen. Gegen die Stimmung vorher ist es hier wie im Kühlschrank. Kilometer 10, ich gucke auf die Uhr: 1:04 h, das ist etwas schneller, als ich zunächst angepeilt hatte Aber wann denn, wenn nicht hier, vor dieser großartigen Kulisse sollte man läuferisch aus sich rausgehen? Meile 8, das imposante Gebäude der Williamsburgh Savings Bank ist in Sicht. Es geht vorbei an der Williamsburgh-Bridge, die Brooklyn und Manhattan verbindet. Greenpoint, das Viertel mit der größten polnischen Gemeinde New Yorks und dann endlich: Meile 13,1, die Halbmarathonmarke ist erreicht. Etwa um diese Zeit ist der Kenianer Rodgers Rop in ausgezeichneten 2:08 h im Central Park durchs Ziel gelaufen. Für mich beginnt der Anstieg zur Pulaski-Bridge, er ist sehr steil, aber mit dem passieren der Brücke läuft man in den dritten Stadtteil New Yorks, nach Queens hinein. Mich irritiert sehr, dass es an der Halbmarathonmarke nicht unsere liebste Frucht, also Bananen fürs Läufervolk gibt, sondern – gar nix, außer der Zeitmessmatte. Erst bei Meile 18 gibt es Apfel- und Orangenscheiben. Wäre da nicht dieses großartige New Yorker Publikum, das einen nicht nur ständig anfeuert, nein, am Straßenrand wird einem fast alles gereicht, einschließlich Kleenex-Tücher zum Schweißabwischen, die man bei diesen kühlen Temperaturen nun nicht eben dringend braucht.

 

„You are looking great“ – Spiderman in Queens 

Queens: Ein nicht minder enthusiastischeres Publikum als in Brooklyn empfängt uns. Bereits im Anstieg zur Pulaski-Bridge bekommt man einen Eindruck davon. Zahlreiche Zuschauer stehen in den Brückenbogen und Traversen, einige mit Getthoblastern, natürlich die gewohnten und immer wieder gern aufgenommenen Rufe wie „you are looking great, you will do it!“ („Du schaust großartig aus, Du schaffst es!“). Die Queensboro Bridge, Kulisse für Filme wie „Spiderman“ oder „Sex and the City“. Irgendwie irre, mich überholt auf dem Weg zur Brücke tatsächlich ein Runner mit dem Spiderman-Kostüm. Das bringt die Zuschauer völlig außer Rand und Band, „Spidy go, wow, Spiderman do it!“, eine Mischung  von Kindergeburtstag mit Popcornfeeling läuft mit Spidy mit. Die Brücke ist faszinierend, gelaufen wird im Unterdeck, über uns rollt der normale Verkehr. Wir überqueren Roosevelts Island. Nach zwei Kilometern ist die Brücke zuende, eine scharfe Linkskurve und pötzlich wieder der Höllenlärm zehntausender begeisterter Zuschauer, nach der Stille auf der menschenleeren Brücke ein echter Schock, aber ein sehr wohltuender. Manhattan, here we are! Und die Manhattanianer, wie die indianischen Ureinwohner Manhattans ursprünglich genannt wurden, bereiten uns einen traumhaften Empfang auf der legendären First Avenue. Vier Meilen lang, auf und ab zwischen den Häuserschluchten Manhattans, die Avenue scheint endlos, das Publikum hier übertrifft von seiner Begeisterung her alles und das will etwas heißen. Zahlreiche Bands spielen, total fasziniert von dieser Stimmung habe ich bisher vergessen, meine Energiedepots zu füllen, also Zwischenstop bei einer gut gekleideten Dame, Banane abgeholt und weiter. Thank you, Madam! Bei Meile zwanzig wieder einer dieser Augenblicke, die New York-typisch sind: Ein großgewachsener uniformierter Schwarzer mit der achteckigen Mütze der Verkehrscops ruft mir zu: „Hey, forget the pain! This is mile 20 and you have only six miles to run! I want see you laughing!” (“Hey, vergiß den Schmerz! Hier ist Meile 20, Du hast noch sechs Meilen! Ich will Dich lachen sehen!“). Das wirkt wie Adrenalin. Die vierte Brücke durchzulaufen, die Willis Avenue Bridge, ist dagegen wie der Lauf gegen eine Mauer. Nach dem ohrenbetäubenden Lärm auf der First Avenue ist hier wieder Stille und wir laufen in die Südbronx. Natürlich, Harlem ist bekanntermaßen schwarz, ein mittlerweile zu Unrecht verrufener Stadtteil, doch die Zuschauer sind hier nicht minder begeisterungsfähig als die anderen vorher. Es fällt auf, dass die Leute hier sichtlich ärmer gekleidet sind als in der First Avenue, auch die Häuser sind heruntergekommener.. Die soziale Leiter in New York ist wirklich sehr lang. Aber klar, auch hier „Welcome to the Bronx!“.

 

“What means IFL?” 

Die letzte Brücke ist in Sicht, die Madison Bridge führt uns wieder zurück nach Harlem, Manhattan. In einem der Häuser entlang der Strecke hatte einstmals Fidel Castro bei seinem Besuch in der UNO in den 60er Jahren gewohnt und aus Furcht vor Giftanschlägen sogar die eigenen Hühner mitgebracht. Lebend natürlich. Das Nordende des Central Parks ist erreicht, ein Stück geht die Route die Fifth Avenue entlang, hier sind die Luxuswohnungen bekannter Schauspieler wie Arnold Schwarzenegger, Jaqueline Kennedy hat hier gewohnt. Der soziale Kontrast ist riesig. Der Central Park trägt sein Herbstkleid, einfach wahnsinnig was man auf dieser „Sightseeing-Tour“ entlang der 26 Meilen alles für Eindrücke bekommt. Viele Läufer, die das New Yorker Publikum kennen, tragen ihre Namen vorne auf dem Trikot und werden von den Zuschauern „persönlich“ angefeuert. Ich laufe natürlich mit meinem IFL-Shirt, auf dem Rücken das IFL-logo. „What means ifl?“, eine Frage, die ich beinahe jede Meile höre. Viele freuen sich, wenn sie hören, dass ich aus Deutschland komme. Eine Läuferin aus Maryland erzählt mir, dass sie zwei Jahre lang in Hanau als Soldatin stationiert war und dass sie „Germany  wonderful“ findet. Laufen verbindet einfach.

Entlang am Central Park stehen die Zuschauer in dichtem Spalier.. Ich bin jetzt etwa vier Stunden unterwegs, die Zuschauer stehen ebenfalls stundenlang und langsam merke ich, dass mir Flügel zu wachsen beginnen. Die Begeisterung ist riesig, kaum mehr zu toppen. Meine Zeit? Schneller als ich geplant hatte. Viele kommen mir „entgegen“, stehen am Straßenrand und dehnen ihre Muskulatur. Der Parcours ist wirklich nicht einfach zu laufen, die Steigungen an den fünf Brücken, das ständige auf und ab auf den endlos scheinenden Avenues kosten Kraft. Aber die Chance, hier in New York meinen bisher schnellsten Marathon zu laufen will ich mir nicht mehr nehmen lassen. Die letzten vier Meilen brechen an, eine davon noch am Rande des Parks und dann endlich: Der Central Park,

 

„Runner´s Paradise“ 

liegt vor mir. Wie hatte mir der Verkehrscop in der First Avenue zugerufen? „Vergiß den Schmerz!!!“ Irgendwann kriege ich Tunnelblick und nehme die Gesichter der Zuschauer nicht mehr wahr, werde von einer riesigen Woge der Begeisterung immer weiter getrieben. Getrieben? Nein, regelrecht ins Ziel gepeitscht und tatsächlich: Der Cop hatte recht. „Last Mile“ steht da auf einem Schild, es wird endlos dauern, bis ich das nächste Schild sehe, „300 Yards“, „200 Yards“, „100 Yards“. Finish. Die „Tavern of the Green“, das Ziel ist erreicht. Die Medaille hängt mir ein freundlicher älterer Mann um den Hals, die silberne Wärmefolie bekomme ich von einer Fee. Und dann ganz langsam, im Strom der anderen Finisher in Richtung UPS-Transporter, den Kleidersack abholen. Mit den umgehängten glänzenden Folien sieht der Läuferzug aus wie eine Prozession von Marsmenschen. Ich gehe gar nicht erst zum Zelt, sondern ziehe mir meine Jeans und mein Sweatshirt im Park über die Laufklamotten. Der Weg zur Subway kommt mir endlos vor, es sind tatsächlich bloß knappe 400 Meter, aber sie ziehen sich. Die freundlichen Menschen mit den achteckigen Mützen halten die Tore für uns auf, wer die Finisher-Medaille vorzeigt, hat heute freie Fahrt in der U-Bahn. Tausende müder, von den Strapazen der 26,2 Meilen gezeichnet, bevölkern heute New Yorks Subway. Ich bin mit 4:37:50 h meinen bisher schnellsten Marathon gelaufen und entsprechend fertig, aber das gilt nur für den Body. Der Rest von mir schwirrt noch durchs Läuferparadies, irgendwo zwischen Brooklyn und dem Central Park.

 

Thank you, New York! 

Abends fahren wir mit einigen Läufern nach Littly Italy zu einem ausgezeichneten Chinesen. Littly Italy? Chinesen? Von den einstmals hunderttausenden italienischen Einwanderern sind nur noch wenige zehntausende in Little Italy geblieben, die meisten sind in andere Stadtteile gezogen. Heute leben etwa vierhunderttausend Asiaten entlang der Canal Street, selbst McDonalds, den es hier ja auch gibt, preist seine Burgers in chinesischen Schriftzeichen an. Der Abend klingt nach dem Vier-Gänge-Menü mit einem Besuch des Empire State Buildings aus. New York um Mitternacht vom 86. Stockwerk aus zu sehen ist ein grandioser Abschluss dieses Tages. Frank Sinatras Lied zu Beginn des Marathons und dieses ereignisreichen Tages fällt mir wieder ein. Thank you, New York!

 

Randolph Oechslein

(weitere Infos über oechslein@bnhof.de)

   Zur Hauptseite